Stell dir vor, du öffnest deine Banking-App – und dein Konto ist einfach weg. Nicht gesperrt, nicht eingefroren, sondern terminiert. Genau das passiert gerade mit Bankkonten in Vietnam.
Offiziellen Staatsmedien zufolge sollen dort mehr als 86 Millionen Bankkonten gelöscht werden. Betroffen sind Konten, die entweder nicht biometrisch verifiziert wurden oder die seit langer Zeit inaktiv sind.
Hintergrund ist eine große „Aufräumaktion“, mit der die Regierung das Finanzsystem bereinigen und gleichzeitig eine flächendeckende digitale Transformation erzwingen will.
Die Botschaft ist klar: Ohne biometrische Identität kein Zugriff aufs eigene Geld.
Natürlich – Vietnam ist nicht Europa. Aber die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Gehen wir in dieselbe Richtung, nur leiser und schrittweiser? Viele der aktuellen Entwicklungen finden offiziell unabhängig voneinander statt. Verbindet man diese jedoch miteinander, ergibt sich ein interessantes Bild, das definitiv kritisch betrachtet werden darf.
Worum es bei der Bankkontenlöschung in Vietnam wirklich geht
Die Regierung in Hanoi hat seit Jahren ein Problem: zu viele Bankkonten, die entweder für Betrug genutzt werden oder nie sauber verifiziert wurden. In einem Land mit knapp 100 Millionen Einwohnern existieren über 200 Millionen Bankkonten – ein Großteil davon doppelregistriert oder ohne klare KYC-Daten („Know Your Customer“).
Um das zu lösen, hat man in den letzten Jahren schrittweise eine Biometrie-Pflicht eingeführt:
- Ab bestimmten Transaktionshöhen (ca. 10 Mio. VND = 390 € pro Überweisung) ist ein Gesichtsscan Pflicht.
- Seit Juli 2025 müssen Firmenkonten biometrisch verifiziert werden.
- Und ab September 2025 werden alle nicht-verifizierten oder lange inaktiven Konten endgültig gelöscht.
Offiziell geht es um Betrugsbekämpfung. Inoffiziell zeigt sich hier aber etwas Grundsätzliches:
Die Verknüpfung von Identität und Finanzzugang wird immer enger. Und das in einem völlig neuen Ausmaß.
Europa: Noch harmlos – oder nur langsamer?
Bei uns in Deutschland und Österreich klingt das erstmal weit weg. Wir kennen zwar die Pflicht, bei Kontoeröffnungen den Ausweis vorzuzeigen – aber eine staatliche Biometrie-Pflicht gibt es nicht.
Doch während wir beruhigt sagen „das betrifft uns nicht“, laufen bei uns ganz andere Projekte, die zusammengenommen in eine ähnliche Richtung deuten. Drei Stichworte sind dabei entscheidend:
1. Der digitale Euro
Der digitale Euro ist das Prestigeprojekt der Europäischen Zentralbank. Er soll wie Bargeld sein – nur in elektronischer Form, direkt von der EZB herausgegeben. Offiziel kein Ersatz, sondern eine Ergänzung zum Bargeld.
Die Argumente: Stabilität, technologische Unabhängigkeit von Dollar-Stablecoins, und ein sicherer digitaler Zahlungsweg.
Klingt harmlos – aber: Wenn Geld direkt von der Zentralbank kommt, wird die Infrastruktur noch zentraler. Jeder Zahlungsvorgang läuft über ein System, das politisch und technisch komplett steuerbar ist. Alle gültigen Kontostände der Wallets des digitalen Euro werden zentral bei der Europäischen Zentralbank geführt und nicht bei mehreren Banken verstreut.
Mehr zum digitalen Euro habe ich hier beschrieben.
2. eIDAS 2.0 und das EU-Wallet
Parallel dazu arbeitet die EU an eIDAS 2.0 – einer neuen Verordnung für digitale Identitäten. Herzstück ist das EU Digital Identity Wallet, eine App auf deinem Smartphone. Darin kannst du Personalausweis, Führerschein, Steuer-ID und mehr speichern. Du kannst dich damit in Zukunft überall einloggen – bei Behörden, im Online-Shop, oder auch bei deiner Bank.
Ob Biometrie-Pflicht kommt? Offiziell nein – aber die Wallet wird mit Face-ID oder Fingerprint geschützt sein, weil Smartphones das standardmäßig so umsetzen. Auch hier gilt also: Kein Zugang ohne Identität, und Identität bedeutet zunehmend Biometrie.
3. AMLA – die neue EU-Geldwäschebehörde
Ab 2026 nimmt die neue Anti-Money Laundering Authority (AMLA) ihre Arbeit auf. Sie soll in der EU für einheitliche Regeln bei Geldwäschebekämpfung sorgen. Das bedeutet: noch strengere Prüfungen, noch engere Verknüpfung von Finanztransaktionen mit der eindeutigen Identität des Nutzers.
Und eines der kritischsten Dinge ist ein EU-weites Kontenregister über all deine Bankkonten, Wertpapierdepots und Krypto-Wallets.
Zum Thema Anti-Money Laundering Authority (AMLA) habe ich diesen Artikel verfasst.
Was AMLA, eIDAS und digitaler Euro verbindet: Alles läuft auf ein System hinaus, in dem Identität, Zahlungsverkehr und Kontrolle zentralisiert werden.
Der rote Faden: Zentrale Steuerung
Betrachten wir Vietnam und Europa nebeneinander, sehen wir zwei unterschiedliche Wege mit demselben Ziel:
- In Vietnam: radikale Bereinigung, Millionen Konten gelöscht.
- In Europa: sanftere, juristisch sauber verpackte Schritte – Wallet hier, AMLA dort, digitaler Euro dazu.
Offiziell sind das unabhängige Projekte. Doch in der Praxis können sie leicht zusammenfließen:
- Wer ein Konto im digitalen Euro eröffnet, könnte sich künftig über das EU-Wallet ausweisen müssen. Es ist sehr naheliegend, dass das kommen wird. Vor allem, seit die EZB offiziell bekannt gegeben hat, dass es sogar eine eigene EZB-App für Basisfunktionen geben wird!
- Die AMLA führt ein Kontenregister über alle Bankkonten und wird es wahrscheinlich auch über die Wallets des digitalen Euros tun. So ist volle Transparenz darüber gewährleistet, wo jemand Vermögenswerte hat.
- Biometrische Merkmale werden damit zum Zugangsschlüssel – nicht, weil Brüssel das so offen ausspricht, sondern weil es technisch bequem ist.
Am Ende steht genau das, was wir heute in Vietnam sehen: Ohne staatlich definierte Identität – kein Geld.
Warum das wichtig ist
Das bedeutet nicht, dass Europa morgen 80 Millionen Konten löscht. Aber die Richtung ist klar: Finanzen und Identitäten verschmelzen.
- Heute: Konto nur mit Ausweis.
- Morgen: Konto nur noch mit staatlich zertifizierter digitaler ID.
- Übermorgen: Konto nur noch mit biometrisch bestätigtem Wallet.
Und spätestens dann stellt sich die Frage: Wer kontrolliert am Ende, wer überhaupt Zugang zum Finanzsystem hat – und wer draußen bleibt?
Vietnam zeigt uns heute, wie schnell ein Staat Millionen Menschen vom Finanzsystem ausschließen kann – mit einem Federstrich. In Europa läuft das Ganze feiner, juristisch korrekter, technisch eleganter. Aber die Richtung ist dieselbe: Identität und Geld sind nicht mehr zu trennen.
Digitaler Euro, EU-Wallet, AMLA – drei Projekte, die offiziell unabhängig sind, aber am Ende in einem einzigen Punkt zusammenlaufen: der zentralen Verwaltung von Identität und Finanzen.
Ob man das gut oder gefährlich findet, muss jeder selbst entscheiden. Aber eines ist klar: Das Finanzsystem, wie wir es kennen, verändert sich gerade grundlegend. Und es wird Zeit, dass wir diese Entwicklung kritisch begleiten.
